Stadtluft macht frei!?


„Igitt, was für ein Gestank...“ Dorit hielt sich angewidert ein Taschentuch vor die Nase, als sie durch den düsteren U-Bahn-Tunnel zum erleuchteten Ausgang strebte. Sie hatte es so eilig, dass sie den Geigenspieler gar nicht wahrnahm und über den vor ihm aufgestellten Geigenkoffer stolperte aus dem prompt die Münzen munter Richtung Gleis rollten. Hüpfend und springend bahnten sich die bronze- und goldfarbenen Plättchen den Weg durch die geschäftigen Füße der anderen Passanten. 

„Kannst du nicht aufpassen?“ Die Musik hatte abrupt aufgehört und der junge Mann, der sich aus dem Grau der Wand gelöst hatte, versuchte zu retten, was möglich war. „Das waren die Einnahmen der letzten Stunde“, seufzte er resigniert und bedachte Dorit mit einem so unwilligen Blick, dass sie sich ganz in sich zurückzog. 

„Es tut mir leid, aber ich wollte einfach nur hier raus.“ 

Er hatte seine Jagd mittlerweile aufgegeben und betrachtete sie jetzt näher. Sie sah eigentlich recht nett aus, aber Sympathie war das Letzte was er im Moment zeigen wollte. 

„Du bist wohl nicht von hier!“, blaffte er sie deshalb an und bemerkte mit Genugtuung wie sie zusammenzuckte. „Hättest mir wenigstens beim Aufsammeln helfen können.“

Sie zog ihre Geldbörse heraus und legte einen Zehn-Euro-Schein in den Geigenkoffer. „Ich hoffe, das genügt.“ 

Und bevor er etwas erwidern konnte, eilte sie davon. Wieder war das Taschentuch ins Gesicht gepresst, wobei es diesmal näher an den Augen als an der Nase seinen Halt fand.  

Ulrich sah ihr nach, etwas zu schlanke Beine in dreiviertellangen Hosen, an den nackten Füssen ein Paar Ballerinas. War er zu schroff gewesen? Aber sie hätte einfach besser aufpassen müssen. Er mühte sich schließlich nicht zum Spaß hier ab sondern brauchte das Geld für sein Studium. Seine Eltern unterstützten ihn so gut sie konnten, aber das Leben in der Stadt war einfach kostspielig. Und gute Konservatorien gab es eben nur in großen Städten. Er versuchte in sein Spiel zurückzufinden, doch die Konzentration kehrte immer wieder zu dem Mädchen zurück. Sie hatte schöne Augen gehabt. Er hätte gern gewusst wie ihre Haarfarbe war, aber eine Ballonmütze hatte ihren Kopf bedeckt. Irgendwann konnte er sich selbst nicht mehr hören, packte sein Instrument in den Koffer und machte sich auf den Weg nach oben. Er freute sich auf die frische Luft und füllte seine Lungen, als er auf den Platz trat auf den die Rolltreppe mündete. 

Er sah sie sofort. Sie saß auf einer Bank auf der anderen Seite des Platzes und hielt ihr Gesicht mit geschlossenen Augen in die Sonne. Sie blinzelte ihn an, als er mit seinem Näherkommen das Licht verdrängte. 

 

„Ich war vorhin etwas grob, bitte entschuldige.“

Sie sah ihn erstaunt an. „Ist schon o.k., es war ja meine 

Schuld und wenn ich denke, dass du an diesem entsetzlichen Platz so lange gespielt hast und dann auch noch dein Lohn dafür weg war.“ Sie überlegte kurz. „Ich finde es schrecklich hier in der Stadt. Diese vielen Menschen und die Lautstärke. Es erdrückt mich. Deshalb renne ich wohl auch so unkontrolliert herum, weil ich ganz schnell weg möchte.“

Mittlerweile hatte sich Ulrich zu ihr gesetzt. „Weshalb bist du dann hier?

„Untersuchung“, erwiderte sie knapp und zog die Mütze vom Kopf. Es war ein leichter Flaum zu sehen der andeutete, dass sich das Haar hier ganz vorsichtig wieder vortastete. „Vielleicht hasse ich es auch deshalb so. Hier bekam ich vor einem Jahr die Diagnose, hier war die furchtbare Behandlung und hier stehe ich immer unter Anspannung, wenn ich zur Nachuntersuchung komme. Wenn der Zug dann wieder durch die Landschaft auf unser Dorf zurollt, ist es für mich eine Befreiung.“ Sie betrachtete ihn. „Gefällt es dir denn in diesem Chaos zu leben?“

Ulrich überlegte. Er betrachtete seine Hände, seinen Geigenkasten. „Ja, eigentlich schon. Und um das zu erreichen was ich möchte, muss ich in diese Welt eintauchen. Ich komme auch aus einer kleinen Stadt, aber dorthin wird sich kein Orchesterchef auf der Suche nach einem begnadeten Violinisten einfinden. Ich werde irgendwann in den großen internationalen Häusern spielen.“ Er lachte. „Das klingt ziemlich hochtrabend, nicht wahr? Aber es ist eben mein Traum und diese Lebendigkeit hier ist ein Teil davon.“

„Ich muss rüber zum Bahnhof. Begleitest du mich?“ Dorit stand auf und auch Ulrich erhob sich. 

„Ja, gerne. Dann ist dein Ausflug also wieder beendet und du kannst dich in deine ländliche Freiheit zurückziehen.“

Schweigend bahnten sie sich den Weg zum Bahnhof und während Dorit das Gefühl hatte, dass die vielen Menschen, die Fahrzeuge, die Lichter in ihrem Kopf einen wilden Kriegstanz aufführten, sog Ulrich die Virilität in sich auf und ließ daraus neue Melodien entstehen.  

Am Bahnsteig nahm sie seine Hand. „Danke fürs Mitkommen und ich wünsche dir dass deine Träume sich erfüllen. Du kannst sicher sein, dass ich dein erstes großes Konzert besuchen werde. Sofern du mir noch deinen Namen verrätst“, fügte sie schmunzelnd hinzu. 

„Oh je, das haben wir wohl vergessen. Ulrich. Ulrich Wegner. Du wirst auch ein ganz persönliches Autogramm von mir bekommen, wenn es so weit ist und du mir sagst, was ich drauf schreiben soll.“

„Für Dorit!“, erwiderte sie. „Mit den besten Wünschen zur geglückten Flucht aus der Erdrückung.“

Damit stieg sie in den Zug und winkte ihm zu. 

Er blickte noch lange dem letzten Wagon hinterher während seine Hände es kaum erwarten konnten nach der Geige zu greifen um dem Erlebten Töne zu geben.