Der letzte weg

 

Eine undurchdringliche Dunkelheit hatte sich über den Park gelegt, der das Seniorenzentrum umgab. Normalerweise fiel etwas Licht aus den Fenstern oder, die etwas entfernt stehenden, Straßenlaternen ließen noch ein paar Strahlen durch die Bäume dringen. Aber diesmal gab es nichts und der alte Mann stolperte den Weg entlang, von dem er immer wieder auf Rasen und in Blumenrabatten abdriftete.  Er war zu spät. Jemand wartete auf ihn, aber er wusste nicht mehr wer und wo. Dieses Signal erreichte ihn aus einem Gefühl, das er nicht deuten konnte. Oder hätte er schon längst wieder in seinem Zimmer liegen sollen? Wo war sein Zimmer? Er fühlte auch eine Müdigkeit, aber warum war er zu spät? Egon Halder versuchte sich zu erinnern, ging unverdrossen weiter durch die Nacht und hielt auf die Umrisse des großen Hauses zu. Er fror sogar in dem langen Mantel, den er trug. Ein schöner Mantel, ganz bunt und aus weichem Material. Aber Socken hatte er keine an. Hilda hatte ihm immer gesagt, dass er ohne Socken nicht spazieren gehen sollte, weil er sich erkälten könnte.

Jetzt konnte er vor sich doch einen schwachen Lichtschein erkennen, der eine gläserne Eingangstür erhellte. Nun hatte er ein Ziel. Er fuhr sich mit einem zerknüllten Tuch, das er aus seiner Manteltasche gezogen hatte, übers Gesicht. Kalter Schweiß tropfte ihm von Stirn und Nase. Gleich war es geschafft. Er stand vor der erleuchteten Tür und vor dem nächsten Problem. Sie war abgeschlossen. Aber eine weitere Erinnerung schlüpfte in seine Gedanken. 

„Klingeln! Ich muss irgendwie klingeln. Wie war das noch?“

Er suchte nach einer Schnur, an der er ziehen konnte. Nein, eine Schnur gab es hier nicht. Da war ein Knopf. Er streichelte erst darüber. Es kam ihm bekannt vor. Dann drückte er. Ein lautes Schrillen war zu hören und ein paar Minuten später sah er eine, verschlafen wirkende, Frau auf die Glastüre zugehen. Ihr Blick wandelte sich von anfänglichem Misstrauen zu Erkennen bis sie schließlich erschrocken und erleichtert aufsperrte und ihn umarmte. Er kannte diese Frau gar nicht, oder vielleicht doch? 

„Herr Halder, wo waren sie denn nur. Wir haben uns solche Sorgen gemacht. Zwei Tage! Die Polizei sucht nach ihnen. Ich muss dort sofort anrufen, dass sie wieder da sind. Aber jetzt schnell herein. Wie kalt sie sind.“

Egon Halder ließ sich durch den Gang bugsieren bis zu einer Art Büro, wo die Frau ihn in einen Sessel drückte und ihm aus einer Kanne etwas Tee in ein Glas goss und ihm dieses in die Hand gab.

„Nun trinken sie das mal zum Aufwärmen und ich gebe in der Zwischenzeit der Polizei Bescheid.“

Egon stutzte kurz. Er hatte doch noch nie Schwierigkeiten mit der Polizei gehabt und er war sich sicher, dass er nichts angestellt hatte. Hilda würde so etwas nicht dulden. Warum wollte diese Frau denn die Polizei anrufen. Aber dann schwebten wieder Wolken durch seinen Kopf und er konnte sich nicht mehr erinnern das Wort Polizei je gehört zu haben. Er trank lieber seinen Tee und dann würde er sich auf den Weg machen. Er war schließlich noch nicht am Ziel angelangt. 

„So, Herr Halder, jetzt erzählen sie mir mal, wo sie waren.“ Die nette Frau, die ihm geöffnet und ihn mit Tee versorgt hatte, setzte sich neben ihn und nahm seine Hand. Es war ihm nicht unangenehm. Sie hatte ein offenes Gesicht und einen lachenden Mund. Egon hatte positive Menschen schon immer gemocht. Hilda war auch so. Allerdings wusste er nicht, was er dieser Frau erzählen sollte. 

„Ich weiß nicht“, antwortete er deshalb unsicher. „Wo war ich denn. Ich denke, ich war zuhause und jetzt bin ich wohl vom Weg abgekommen und hier gelandet. Aber es ist sehr nett, dass ich einen Tee bekomme. Er tut sehr gut.“ Er sah sie an und ahnte, dass die Antwort für sie nicht ausreichend war. Aber er hatte keine andere parat. Die Frau ließ seine Hand wieder los. 

„Ich werde Dr. Hirscher anrufen. Er soll sie mal lieber untersuchen. Es waren immerhin zwei Tag, die sie fehlten.“ Sie lächelte wieder dieses warme Lächeln. Es erinnerte ihn an irgendjemanden.

„Hier ist nochmal ein Tee und ein paar Kekse. Ich bin gleich wieder zurück.“

Egon sah ihr nach, wie sie den Gang hinunterlief und hinter einer Tür verschwand. Ach je, jetzt fiel es ihm wieder ein, Hilda würde noch warten in ihrem Café, in dem sie sich immer trafen. Er musste los. Er hatte doch noch einen Weg zu gehen und konnte es sich nicht einfach hier bequem machen. 

„Keine Sorge, Hilda, ich bin gleich bei dir. Warte noch einen Moment!“

„Herr Halder, ich bin schon zurück und Dr. Hirscher wird sie jetzt untersuchen. Herr Halder?“ Sie sah erschrocken erst zu der zusammen gesunkenen Gestalt in dem Sessel und dann zu dem neben ihr stehenden Arzt. Der nahm ruhig dessen Handgelenk zwischen seine Finger und schloss ihm dann mit einer zarten Bewegung die Augen. 

„Er ist wohl weitergegangen!“