Spurensuche


Flirrende Hitze, diesen Ausdruck hatte ich als Kind gehört, gelesen in vielen Romanen und dabei nie verstanden, was es zu bedeuten hatte. Jetzt hier, aus dem Auto ausgestiegen, am Straßenrand stehend und dieses vertrocknete Land vor meinen Augen, wusste ich was es war. Die Luft schien in Bewegung zu sein. Die Farben wurden klar und dann wieder unscharf. Die Wärme war sichtbar geworden und es waberte am Horizont.

Ich wollte nie nach Amerika, aber diese Fotos im Album meiner Großmutter, das wir  letztes Jahr in ihrer Truhe gefunden hatten. Die Truhe, die bei ihr immer unter Verschluss war, hatte vieles verändert. Ich hasse Veränderungen. 

Sie sahen mich an in der Schule, weil ich anders war. Meine Haut hatte immer einen schönen Braunton, egal ob Sommer oder Winter, und mein Haar legte sich in kleinen  schwarzen Kringeln um meinen Kopf. Ich dachte mir nichts dabei, denn meine Mutter war noch etwas dunkler, nur meine Oma sah aus wie alle anderen Großmütter hier in Süddeutschland. Sie war rosig, hatte weißes Haar in dem nur noch ein paar graue Strähnen einen Farbtupfer abgaben. Und sie sprach nie davon, warum wir anders waren, obwohl es in einem gewissen Alter dann nicht mehr schwer zu erraten war. Aber so war sie. Über etwas nicht zu sprechen war gleichbedeutend dafür, dass es die Sache oder den Menschen nicht gab. Es, er, sie existierten einfach nicht. Meine Mutter war anders. Wenn ich nach Hause kam und erzählte, dass sie mir wieder das Pausenbrot weggenommen hatten oder am See nicht mehr aus dem Wasser lassen wollten, bis meine Farbe abgegangen war, berichtete sie mir tröstend von ihrer Kindheit, in der die Hänseleien noch viel schlimmer ausgelebt wurden, und das nicht nur von Kindern. „Und warte erst mal, meine liebe Eva, wenn du eine richtig gute Freundin gefunden hast, dann wird dir das ganz viel Kraft geben. So war das bei mir auch.“

Mama und ihre Freundin aus Kindertagen sind noch immer zusammen. Tante Reni wohnt zwar jetzt in Hannover, aber sie telefonieren jede Woche und ich durfte unzählige Male die Ferien bei ihr verleben. Tante Reni hat mir erzählt wie sie meine Mutter beschimpft hatten und ihr nachgeschrien, dass sie ein Negerbastard sei. Aber sie war von Anfang an fasziniert gewesen von den schwarzen Haaren und den braunen Augen. „Und besonders von ihrem Lachen.“, sagte Tante Reni und sah mich dabei fröhlich an. „Du hast das auch, mein Schatz.“

Wie lange ist das nun her und doch ist es noch heute so gut vorstellbar, obwohl sich die Nationalitäten munter vermischen. Ich habe gerade die Vierzig überschritten und letztes Jahr haben wir Oma zu ihrer letzten Ruhe gebettet nach einem Jahr der Verwirrung und ihres Abdriftens in längst vergangene Zeiten. Mama und Papa haben sie hingebungsvoll gepflegt. „Meinetwegen hat sie sich so viel Schmach anhören müssen“, hatte Mama immer gesagt, „das ist das Mindeste was ich jetzt für sie tun kann.“ Menschen können so gemein sein. Papa war genauso fasziniert von meiner Mutter wie Tante Reni und ich denke, dass diese Beiden in ihr alles wieder geheilt haben. All diese kleinen Wunden, die ihr die vielen Bösartigkeiten zugefügt hatten. Und auch ich bin in diesem Kreis der Liebe groß geworden und habe das Ungerechte abprallen lassen. Heute sehen es die meisten als besonders attraktiv – die leicht gebräunte Haut, das dunkle Haar. Exotisch wird es jetzt genannt.

Aber all das nur am Rande. Großmutter hatte nie davon gesprochen wie sie zu diesem Kind gekommen war. Naja, das rein Biologische ist natürlich klar. Aber nie hatte sie ein Wort darüber verloren, wie sie diesen Mann kennen gelernt hatte, ob sie sehr verliebt war, warum sie nicht zusammen geblieben waren. Er existierte nicht mehr und war in ihren Augen für das reale Leben uninteressant und somit nicht wert darüber zu reden. Meine Mutter hatte als Kind oft nachgebohrt. Immer erfolglos, bis sie es aufgegeben hatte. Ein Besatzungskind eben, das lag auf der Hand. Nicht mal den Namen ihres Vaters konnte sie ihr entlocken. „Warum willst du das wissen? Er wird niemals kommen und für dich sorgen.“

Und dann räumten wir ihr Zimmer aus. Großmutters Truhe – ihr Heiligtum. Mutter und ich, wir dachten beide es müsste  

ein Schatz herauskommen, als wir sie andächtig öffneten. Ich weiß nicht, was wir erwartet hatten. Vielleicht ein gleißendes Licht, den heiligen Gral, keine Ahnung. Ein Kleid lag darin. Ein luftiges weißes Sommerkleid mit weitem Rock und einer gestickten Blumenborte am Ausschnitt. Darauf standen ein Paar Schuhe, von denen sich das Leder bereits ablöste. Kein Wunder – wie lange lagen sie schon hier verborgen? Sechzig Jahre? Fünfundsechzig? Mama war dreiundsechzig Jahre alt und sie konnte sich nicht erinnern das Kleid oder die Schuhe jemals gesehen zu haben. Ein paar Briefe und ein kleines Fotoalbum mit braunem Pappdeckel. Wir stürzten uns darauf, begierig etwas von den Dingen zu erfahren, die sie vor uns verborgen hatte. Erst das Fotoalbum. Die ersten Bilder waren in unserer Gegend aufgenommen. Berge waren im Hintergrund zu erkennen und davor ein dunkler GI mit einem braunhaarigen Mädchen an der Seite, meiner Großmutter. Angelehnt an ein Motorrad, mit der Picknickdecke auf einer Wiese, in einem Biergarten. Lachende Gesichter. Dann kamen Fotos die uns fremd waren. Karges Land, ein Farmhaus in einer uns fremden Art, Rinder in einem großen Pferch, eine Großfamilie auf einer Veranda, immer dabei der Mann aus den ersten Fotos. Er sah sehr gut aus und sehr freundlich. Wärme strahlte aus seinen Augen und dann auf dem letzten Blatt, quer über die ganze Seite geschrieben „Please come!“ Ein Umschlag war ebenfalls beigeheftet aus dem einige Dollarnoten lugten. Mein Großvater wollte Oma also zu sich holen und sie hatte es nicht fertiggebracht, ihre Heimat zu verlassen. Lieber wollte sie dieses Kind allein aufziehen mit all den Problemen, die damit verbunden waren.  Ich betrachtete meine Mutter, deren Augen verdächtig funkelten.

„Die Briefe?“, fragte ich.

„Ich möchte sie allein lesen. Wahrscheinlich sind sie auf Englisch und ich muss mein Schulwissen wieder aus dem Gedächtnis kramen um sie zu verstehen. Das wird dauern.“ Sie überlegte ob sie weitersprechen sollte und gab sich einen Ruck. „Denkst du er wusste von mir?“

Ich zuckte mit den Schultern und schüttelte dann langsam den Kopf. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass dieser Mann auf den Bildern Oma allein gelassen hätte. „Lies die Briefe. Du erfährst bestimmt mehr.“

Sie nickte, legte Album und Post zur Seite und wir arbeiteten stumm weiter, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt. Irgendwann war alles in Kartons verpackt und zur Abholung bereitgestellt. Ich trennte mich mit einer Umarmung von meiner Mutter.

„Ruf mich an, wenn du reden willst.“

Sie nickte nur, schloss die Tür hinter mir und ich hörte wie sie die Treppe nach oben ging, in ihre Wohnung.

Nun war fast ein Jahr vergangen und ich stand hier an der Straße, etwa fünfzig Kilometer außerhalb von Phoenix-Arizona, wo wir gestern gelandet waren und wo meine Mutter im Hotel noch von dem langen Flug ausruhte. Nachdem die Briefe gelesen waren und sie den Namen ihres Vaters herausgefunden hatte, setzte sie alle Hebel in Bewegung um zu erfahren, wie sie ihn erreichen konnte. Wunderbarerweise war die angegebene Adresse noch aktuell und er lebte noch immer dort, umsorgt von seiner Tochter und deren Mann. Der Kontakt entstand ganz vorsichtig, zuerst ein Brief, dann E-Mail-Austausch und irgendwann ein Telefonanruf aus einem Gemisch von Englisch und Deutsch. Ruth hatte ihrem Vater die Neuigkeit ganz vorsichtig beigebracht um seinen Gesundheitszustand nicht zu gefährden. Er war immerhin neunzig Jahre alt und, wenn auch nicht wirklich krank, so doch etwas gebrechlich. Ich sollte mich nun mit Ruth treffen um den weiteren Ablauf dieser Familienzusammenführung zu besprechen und mein Magen zitterte vor Aufregung. Ich hasse Veränderungen – habe ich das schon erwähnt?. Ich wünschte mir gerade, dieses Album nie gefunden zu haben und beschimpfte mich gleich darauf als undankbar und selbstsüchtig. Meiner Mutter bedeutete es so viel und Eddie, ihrem Vater, ebenfalls.

Flirrende Hitze – flirrender Magen – flirrendes Herz.

Ich stieg ins Auto – klimatisiert – beruhigend – es geht weiter…