David und Goliath


„Große Fische – kleine Fische, große Fische – kleine Fische, große Fische – kleine Fische.“ Er saß auf der Bank an dem sumpfigen Weiher und warf mal große Brotbrocken, mal kleine Krümel ins Wasser. Fasziniert sah er den schnappenden Mäulern zu, die die aufgeweichten Batzen unter Wasser zogen. Seine Hände bewegten sich wie ferngesteuert und sein Blick war starr und ausdruckslos. Spaziergänger schlenderten an der merkwürdigen Gestalt vorbei, die monoton die gleichen Worte vor sich her brabbelte. Pärchen blickten sich verständnislos an und grinsten. Andere schüttelten den Kopf und tippten sich an die Stirn.           

Klaus Konrad ließ das kalt. Er nahm die Umgebung nicht wahr und warf immer weiter sein altes, ausgedörrtes Brot in den Teich. „Ich war auch mal ein großer Fisch“, schrie er plötzlich und vor lauter Aufregung tropfte ihm der Speichel aus den Mundwinkeln.

Die alte Frau, die eine Bank von ihm entfernt saß und in einem zerfledderten Groschenroman blätterte, fuhr erschrocken zusammen. Sie richtete ihre Augen auf diesen sonderbaren Mann, der sich nun erhob und von seinem Trenchcoat die Brösel abklopfte.  Der Mantel war irgendwann einmal teuer gewesen, das sah Katharina, aber seine besten Tage waren schon seit langem abgelaufen. Genauso wie die Gestalt die in ihm steckte – abgetragen und verbraucht.

„Was glotzt du so dämlich“, herrschte Klaus sie an und Katharina rutschte eingeschüchtert ein Stück zurück.

„Sie haben mich erschreckt“, flüsterte sie zaghaft. Sie konnte den Blick nicht von ihm wenden. Dieser Mann mit dem alten Trenchcoat  und den ausgetretenen Schuhen stieß sie ab und ließ sie gleichzeitig vor Mitleid zerfließen.

Jetzt war Klaus derjenige, der betroffen wirkte. Wie konnte er nur eine alte, hilflose Frau ängstigen. War er wirklich soweit gesunken?

Zögernd näherte er sich und ließ sich auf der äußersten Kante der Bank nieder. Katharina schob sich ebenfalls nochmals ein Stück zurück und beobachtete ihn wie ein bedrohtes Tier.

„Sie sprechen mit den Fischen.“

„Nein, tu ich nicht. Ich sehe ihnen nur zu. Es ist beruhigend, dass in der Natur der Kleinere immer unterliegt und gefressen wird.“ Seine Zunge wanderte über die Lippen.

„Das ist nicht wahr. Wie kommen Sie denn auf so etwas?“

„Schauen sie doch hin! Da schwimmt dieses große, träge Viech herum, als ob es zu blöd wäre die Flossen zu bewegen und kaum kommt  ihm so ein kleiner Zappler vor die Nase – schwupps, hat er auch schon das Maul aufgerissen und ihn geschluckt.“ Klaus starrte in ihr Gesicht ohne sie wahrzunehmen. „Die Kleinen müssen doch normalerweise immer dran glauben.“

„Nein“, widersprach Katharina mit einer Heftigkeit, die Klaus erstaunt aus seiner Lethargie riss. „Überlegen sie doch mal und sehen sie sich doch um. Die Kleinen sind so flink und gerissen, da kommt so ein großes Tier gar nicht mit. Diejenigen, die dran glauben müssen, sind die Unachtsamen. Aber von denen abgesehen haben die Winzlinge doch nur Vorteile. Sie können sich überall verstecken, sie fallen nicht auf, sie sind flink und wendig und hinter dem Rücken der Großen zeigen sie ihnen die lange Nase.“ Katharina grinste plötzlich vor sich hin. „Ich hab auf diese Weise auch immer meinen Weg gemacht.“

„Man sieht ja wie erfolgreich das war.“ Klaus musterte die abgetragene Kleidung, das zerfledderte Buch und die abgearbeiteten Hände. 

„Sie, dagegen,  waren wohl ein großes Tier. Das erkennt  man auf den ersten Blick.“ Mit Ironie ließ nun Katharina ihren Blick über seine Erscheinung wandern, die  abgeschabten Schuhe, die Hose, an der sich die Knie ausbeulten und der, schon vorher erwähnte, Trenchcoat. 

„Ja, lachen sie ruhig, aber das war ich wirklich. Und wenn ich jetzt sage, dass ich es gewohnt war in den edelsten Lokalen der Stadt ein und aus zu gehen, werden sie wahrscheinlich denken, dass sie es mit einem armen Irren zu tun haben.“ Klaus rieb sich das Kinn auf dem die Stoppeln eines Dreitagebartes sprossen.

Katharina sah ihn durchdringend an. „Wissen sie, ich glaube ihnen sogar. Ich bin nicht so unbedarft, dass ich nicht erkennen kann wie teuer ihre Kleidung irgendwann einmal war.“ Sie schmunzelte. „Das liegt allerdings schon eine Weile zurück, nicht wahr?“ Sie rückte nun wieder etwas näher. „Wollen sie vielleicht darüber reden?“

Klaus winkte mürrisch ab, rührte sich aber nicht vom Fleck. Verstohlen wanderten seine Augen zu der alten Frau, die nun, scheinbar teilnahmslos, in die Ferne blickte. Sie hielt immer noch fest den Roman in den arthritischen Händen. Er suchte vergebens den Titel und blieb an einem abgebildeten Hochhaus hängen, dass eine bedrohliche Schieflage aufwies.

 

„Dort war ich“, begann er fast flüsternd und deutete auf das Bild. „Ganz oben war mein Büro, fein ausgestattet, sogar einen Sekretärin im Vorzimmer, die mich mit allem versorgte. Wissen sie,“ er sah kurz auf, ob sie ihm zuhörte, „die Hierarchie ließ sich an den Stockwerken messen. Je weiter oben das Büro war, um so größer war die Macht.

Ich habe im zweiten Stock angefangen und mich bis zum zehnten Stock nach oben gedient. Dann war  Ende. Und dann ging es im freien Fall auf die Straße.“ Wieder lachte er. „Wenn ich mir überlege wie lange es gedauert hatte dort hinauf zu klettern, war der Abstieg recht unkompliziert und schnell.“

„Vom großen Fisch zum kleinen Fisch, wie sie vorher so schön vor sich hin gesponnen haben.“ Katharina verstand. „Aber ich habe ihnen ja gesagt, dass die Kleinen sehr viele Vorteile haben zu Überleben.“ Vorsichtig legte sie ihren Roman zur Seite und ergriff seine Hand.

„Schauen sie mich an. Ich bin nun wirklich ein kleiner Fisch, aber hab ich nicht ziemlich lange überlebt? Ich bin Vierundsiebzig Jahre alt, habe eine warme Wohnung und soviel zu essen, dass ich satt davon werde. Ich kann nach draußen gehen wann immer ich will und sehen was ich will und hören was ich will.“ Katharina lachte, als sie sein zweifelndes Kopfschütteln sah. „Ihnen wäre das nicht genug, oder? Aber denken sie nur mal nach. Hatten sie so viele Freiheiten, als sie dort oben im zehnten Stock saßen?“

„Aber ich hatte Macht! Meine Frau himmelte mich an. Ich konnte mir die tollsten Urlaube leisten. Ich wurde ernst genommen.“ Sein Ton bekam etwas weinerliches. „Haben sie vorhin die Leute gesehen? Meinen sie, dass einer von denen mich für voll nimmt?“ Sein Kopf sank in die Hände und seine Schultern bebten.

„Entschuldigen sie, wenn ich das sage, aber eine Frau die sie anhimmelt, weil sie im zehnten Stock arbeiten, kann nicht viel wert sein.“ Katharina kicherte, „ich wäre es leid gewesen, immer so viele Treppen steigen zu müssen um meinen Mann zu besuchen.“

„Ach, hören sie doch auf, sie haben doch keine Ahnung. Sie sind doch ein ganz kleines Licht, das sieht man ja sofort. Schauen sie doch mal in den Spiegel. Haben sie überhaupt schon mal irgendwas Schickes zum Anziehen besessen?“ Er verletzte und er wollte verletzen. Er war wütend auf diese Frau, obwohl sie nicht das Geringste mit seinem Pech zu tun hatte. Aber sie war hier und sie dachte so rational und schien nicht die Bohne Mitleid mit ihm zu haben.

Katharina war verletzt, aber sie würde den Teufel tun ihm das zu zeigen. Sie sah an sich hinunter. Alles was sie trug war immer nur praktisch gewesen und bisher hatte sie damit auch nie ein Problem gehabt. Aber plötzlich störte es sie. 

 

trocken. ‚Ja Katharina’ sagte sie zu sich. ‚Nie hast du was auf dein Äußeres gegeben und nun bist du Vierundsiebzig und da kann so ein Großmaul, der von ganz oben nach ganz unten gefallen ist dich aus der Fassung bringen.’

Sie sah zu ihm hoch. „Ja, machen sie ruhig weiter, wenn es ihnen gut tut. Aber deswegen kommen weder ihre Frau noch ihr Reichtum zurück. Ihre Frau hat sie doch verlassen, nicht wahr? Sonst wären sie bestimmt nicht so gemein.“ 

 „Sie haben ja Recht.“ Nun wirkte er kleinlaut. „Ich verstehe meine Frau. Sie kommt aus kleinen Verhältnissen, so wie ich. Und sie wollte nicht mehr dorthin zurück. Es wäre ja auch zuviel verlangt, wenn sie noch mal mit mir in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung beginnen würde. Es ist schließlich meine Schuld gewesen. Sie schämte sich unter Leute zu gehen. Das Gerede und die höhnischen Blicke konnte sie nicht ertragen. Da hat sie eben woanders einen Neuanfang gesucht.“ Er stierte in den Boden. „Es hätte nicht unbedingt unser Anwalt sein müssen“, fügte er noch so leise hinzu, so dass Katharina es beinahe nicht verstanden hätte.

Sie schüttelte den Kopf. „Da bin ich aber anderer Meinung. Heißt es nicht ‚in guten wie in schlechten Zeiten’? Sie sagen, ihrer Frau war der Wohlstand wichtig. Hätten sie ihr genug bedeutet, wäre sie nicht gegangen, gerade wenn alles den Bach runter geht.“ Sie machte eine kleine Pause.

„Wollen sie mir erzählen, wie das passiert ist? Immerhin scheinen sie einigen Einfluss gehabt zu haben.“

„Ich war einer dieser großen Fische – und ich hätte nie gedacht, dass so ein kleiner Wurm mir das Genick brechen könnte.“ Klaus warf die restlichen Brotkrumen ins Wasser und beobachtete, wie es an dieser Stelle zu brodeln begann, als ob es kochen würde. Kleine Mäuler schnappten aufgeregt nach den Bröseln und die Fischleiber schubsten sich gegenseitig weg um die besten Brocken zu bekommen.

„David!  Ich mochte ihn, ich mochte seine Zielstrebigkeit, sein Engagement, seinen starken Willen es, wie ich, von ganz unten nach oben zu schaffen.“ 

„Und sie waren dann wohl der Goliath.“ Katharina hörte aufmerksam zu. 

„Ja, so kann man es auch ausdrücken.“ Klaus lachte bitter. „Ich arbeitete im Baugewerbe. Hatte unter schwierigen Bedingungen Bauingenieur studiert. Finanziert durch Nebenjobs als Maurer, Fliesenleger, Schweißer, alles was so anfiel. Es hat nicht geschadet  und brachte mir immer den Vorteil die Materie auch von der praktischen Seite zu betrachten, was nicht mehr häufig der Fall ist. Theoretiker die meisten.“ Er gab ein abfälliges Schnauben von sich.

„Helga, meine Ex, hat mich damals auch unterstützt, hat immer gearbeitet und ist fürs tägliche Brot aufgekommen.

Sie war so stolz, als ich soweit war ihr die Annehmlichkeit zu bieten daheim zu bleiben.“ Wieder sah er versonnen ins Wasser.

„Das ist doch mehr, als sich die meisten Frauen wünschen können“, bemerkte Katharina. „Dafür sollte sie ihnen dankbar sein und nicht vor den Schwierigkeiten weglaufen.“

„Ach, was wissen sie schon. Sie kennen es halt nicht anders, aber wenn man es von unten nach oben geschafft hatte, kann man nicht  so einfach zurück.“ Wütend kickte er einen Stein ins Wasser.

„Das sehe ich anders, aber erzählen sie weiter.“ Katharina änderte ihre Sitzposition und drehte sich zu ihm. „Ist die Luft dort oben im zehnten Stock denn wirklich so viel besser?“

„Sie ist dünn“, murmelte er und straffte dann wieder die Schultern, was ihn gleich eindrucksvoll erscheinen ließ.

„Sie ist dünn und nur Wenige könne sie atmen und genauso wenige Leute gibt es, mit denen man noch sprechen kann.“ Plötzlich fing er an zu beben und Katharina dachte schon, wer würde weinen, bis sie merkte, dass es ihn vor Lachen schüttelte. Sie stimmte spontan mit ein, ohne zu wissen warum. 

„Wenn ich es recht überlege kann man sich gar nicht richtig unterhalten. Man diskutiert über Transaktionen, über Gewinne, wie man Einsparungen machen kann um noch mehr Geld einzustreichen. Aber man redet nicht. In dieser Höhe gibt jeder nur Floskeln von sich.“ Er grinste immer noch, „wahrscheinlich um Sauerstoff zu sparen, bei der dünnen Luft.“ 

„Und warum ist sie ihnen schließlich doch ausgegangen, die Luft?“ 

„Gefühlsduselei“, gab er trocken von sich. „Wir hatten ein Riesenprojekt an Land gezogen. Großes Gewerbezentrum, fast eine kleine Stadt für sich. Kleine Firmen, Geschäfte, Büros, medizinisches Zentrum. Wir hatten uns wahnsinnig ins Zeug gelegt  diesen Auftrag zu bekommen und es hatte geklappt. Wir arbeiteten auf Hochtouren. Knackpunkt – ein kleines, altes Häuschen, dass die Eigentümerin nicht verkaufen wollte. Die Planung war komplett und die Fläche war perfekt. Nur dieses kleine Haus stand an der Ecke und wollte nicht weichen.

David arbeitete an dem Auftrag – es sollte eine Generalprobe für ihn werden und ihm den Weg nach oben öffnen. Er kam mit dem Problem zu mir und legte mir einige Papiere vor, die er gemeinsam mit unseren Anwälten ausgearbeitet hatte. Enteignung sollte es werden, medizinisches Gutachten, Bestechung der Ärzte, um die alte Dame in die Klapse einweisen zu lassen und ähnliches. Mir wurde plötzlich schlecht, als ich  alles durchlas. Ich musste an meine Eltern denken, an meine Oma, sie stand vor mir und schüttelte den Kopf. Ich wusste, dass sie entsetzt gewesen wäre, wenn ich mich zu solchen Machenschaften herabgelassen hätte. Ich hab es also abgebrochen. Ich gab die Anweisung, eine bauliche Lösung zu finden und die Pläne in der Form abzuändern, dass dieses kleine Grundstück nicht angetastet wurde.“ Klaus atmete tief durch. Es fiel ihm sichtlich schwer weiterzumachen.

„Was soll ich noch sagen – David sah mich fassungslos an, gehorchte aber meinen Instruktionen. Die Umplanung kostete die Firma eine halbe Million, was bei einem Projekt dieser Größenordnung durchaus drin ist. Allerdings ging der junge Mann zum Vorstand und erzählte dort alles. Tja, damit war das Urteil über mich gefällt und David hatte seinen Karrieresprung in der Tasche.“ 

Klaus nahm einen Stein vom Boden, wog ihn eine Weile in der Hand, bevor  er ihn mit ganzer Kraft wegschleuderte.

„Goliath war gefallen!“

Er drehte sich zu Katharina um, die kreidebleich geworden war und nahm die ledrige Hand in seine.

„Ich hätte das überlebt, wäre in eine andere Stadt oder in ein anderes Land gegangen um dort von vorn anzufangen. Nur beließen sie es nicht bei der Entlassung, sondern prozes-sierten dann noch gegen mich. Die halbe Million an Zusatz-kosten hatte ich zu bezahlen – Schadenersatz! Das war mein finanzielles Ende und in dieser Region kann ich nicht mal damit rechnen, wieder einen Job zu bekommen.“

Er erhob sich müde. „Danke fürs Zuhören – ich hätte nie gedacht, wie befreit man sich danach fühlen kann.“ Katharina blieb wie erstarrt sitzen. „Geht es ihnen nicht gut?“ Er sah sie besorgt an. „Sie sollten sich meine Geschichte nicht zu Herzen nehmen.“ Er lächelte und streckte ihr die Hand entgegen, um ihr beim Aufstehen zu helfen.

Langsam zog sich Katharina an seinem Arm nach oben und blickte ihm in die Augen.

„Darf eine alte Frau sie zu einer Tasse Tee einladen?“, fragte sie scheu. „In ihr kleines Haus, das wunderbarerweise noch immer steht.“