Aus den angeln

„Das Glück ist für das Leben, was der Tau für den Rasen ist!“ Meine Großmutter liebte Sprüche  und hatte einen schier unerschöpflichen  Schatz davon. Bei jeder Gelegenheit gab sie uns, ihren Enkeln, und wahrscheinlich schon vor uns ihren Kindern eine ihrer Weisheiten mit auf den Weg. Jetzt stehe ich vor ihrem Haus und lese die kleine Schiefertafel, die neben der alten Holztür angebracht ist. Darunter steht ihre Gießkanne. Ein Lächeln huscht über mein Gesicht. Sie hatte immer nach Verbindungen gesucht.

„Meine kleine Maria, du machst mich so glücklich“, pflegte sie bei  vielen Dingen zu mir zu sagen. Der zerrupfte Blumenstrauß, den ich ihr gepflückt hatte, gute Noten in der Schule, der gewonnene Schwimm-wettbewerb. Später waren es das bestandene Abitur und der Vorsatz ein herausragendes Studium zu absolvieren. Immer hatte sie mich ermutigt, hatte mich bei den Auseinandersetzungen mit meinen Eltern unterstützt und ein offenes Ohr gehabt für meine kleinen und größeren Sorgen.  Sie war immer für mich da gewesen. Und ich hatte sie enttäuscht. Ich hatte sie zurückgewiesen und tief verletzt. Heute frage ich mich wie mir das passieren konnte. Der Mensch der in so vielen  Phasen meines Lebens mein wichtigster Partner war. Ich bücke mich,  zupfe ein paar Unkrautpflanzen aus dem Blumenbeet und lasse den Blick durch den Garten wandern. Ihr wundervoller Garten. Er sieht ungepflegt aus.

„Verlass sofort mein Haus!“ Ich höre ihre Stimme noch heute und sehe sie vor mir. So hatte ich mir immer den Erzengel Michael mit dem Flammenschwert vorgestellt. Ich weiß nicht mehr wie ich damals ausgesehen habe, wahrscheinlich abstoßend. Die Fotos die aus dieser Zeit von mir existierten habe ich verbrannt. Ich hatte ihr damals ins Gesicht gelacht. „Denkst du vielleicht, ich will hier bleiben? Ich bin froh, wenn ich dich nicht mehr sehen muss.“ In der Jacke hatte ich noch kurz nach den Geldscheinen getastet, die ich zuvor aus ihrem Schrank geklaut hatte. Ich wusste ja, wo sie ihre eisernen Reserven aufbewahrte.

Ich hatte Michael an der Uni kennengelernt. Er war so anders als die anderen dort, die mir noch immer Jungen zu sein schienen. Er hatte diese erhabene Art. Er schien über den Dingen zu stehen. Heute weiß ich, dass der Ausdruck nur durch die Drogen, die er konsumierte, herbeigezaubert worden war. Aber er ließ mich teilhaben an diesem, seinem

Leben. Es war wie ein Sog, ein wunderbarer Strudel, der mich mal nach oben trug und dann wieder in die Tiefe riss. Wir lebten in unserer ganz eigenen Welt. Ich ging nicht mehr zu den Vorlesungen, das Geld meiner Eltern war schon am zweiten Tag jeden Monats aufgebraucht und danach liehen oder stahlen wir uns den Rest zusammen, den wir brauchten um über die Runden zu kommen. Ich kann mich nicht mehr gut daran erinnern, was alles geschah. Heute erscheint es mir wie ein Traum, eine Phase meines Lebens die ich in einem einzigen langen Trance-Zustand verbracht zu haben schien.

Irgendwie schafften es meine Eltern mich dort herauszuholen und zu meiner Großmutter zu bringen. Aber die Zeit war noch nicht reif für den Weg zurück. Sie hatten bestimmt die besten Absichten, aber sie hatten keine Ahnung wie sie mit mir umgehen sollten. Meine Großmutter war immer mein Hafen gewesen und so setzten sie alle Hoffnung darauf, dass sie es war, die mich zur Vernunft bringen könnte. Und ich? Ich spielte mein Spiel mit ihr. Ich belog sie, ich missbrauchte ihr Vertrauen, ich stahl. Ich schlug dem Menschen, den ich so sehr liebte die Tür vor der Nase zu, so lange bis sie es nicht mehr ertragen konnte und mich vor eben diese Tür setzte.  Nie wieder würde sie sagen, dass ich sie glücklich mache.

Ich sollte noch tiefer fallen. Wieder Michael, wieder Drogen, wieder Diebstahl. Irgendwann schnappte uns die Polizei und wir wurden, getrennt voneinander, in Entzugsanstalten gesteckt. Es war die Hölle und es war die Wiedergeburt. Heute  arbeite ich selbst dort als Therapeutin. Ich startete nochmals den Versuch mit dem Studium und schloss es auch ab. Sozialpädagogik und Psychologie.

Den Mut zu meiner Großmutter zu gehen hatte ich nicht. Jetzt ist sie krank. Schon seit fast einem Jahr lebt eine Pflegerin bei ihr und kümmert sich um sie. Es wird nicht mehr lange dauern, haben meine Eltern vor einigen Tagen gesagt.

„Das Glück ist für das Leben, was der Tau für den Rasen ist!“ Ich lese es noch einmal. Die Tür geht auf und eine Frau sieht mich an. Ein warmer Ausdruck ist in ihren Augen.

„Warum stehen Sie denn dort draußen, kommen Sie doch herein.“ Sie lächelt und ich merke, dass ich auch lächle.

„Sie sind Maria.“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung und ich nicke nur.

„Ihre Großmutter hat mir Bilder von Ihnen gezeigt. Sie wartet.“

Ich gehe hinein.