Die drei Hasenfreunde Rübchen, Schlitzohr und Tüpfel standen fröhlich vor dem Haus der Familie Rübsam und ließen geduldig die Ermahnungen von Mama Rübsam, Rübchens Mutter, über sich ergehen. Jeder von ihnen hatte einen kleinen Rucksack auf dem Hasenbuckel mit einer Flasche Limonade und einem Apfel, denn sie wollten auf die andere Seite des Tals, zu Oma Henriette, bei der sie das Wochenende verbringen durften. Oma Henriette war klasse und konnte die besten Kuchen der Welt backen. Außerdem hatte sie immer Zeit für lustige Spiele. Und es war das allererste Mal, dass sie sich ganz allein auf den Weg machten.
„Ihr lasst euch von niemandem ansprechen oder etwas schenken!“, mahnte Mama Rübsam mit strengem Blick. „Und bleibt immer auf dem Weg, keine Ausflüge in den Wald. Dort werdet ihr euch nur verlaufen. Und kurz nach der großen Eiche kommt der Biberdamm, auf dem ihr den Fluss überqueren müsst. Seid vorsichtig, damit ihr nicht ins Wasser fallt und haltet euch gut fest. Und verpasst den Damm nicht, denn sonst müsst ihr einen riesigen Umweg machen. Die nächste Möglichkeit ist dann erst sehr viel weiter flussabwärts über ein paar Felsen. Und..“
„Mama!“ Rübchen unterbrach ihren Redeschwall. „Wir werden bestimmt aufpassen, aber wenn du uns noch lange einen Vortrag hältst, dann kommen wir nie weg.“
Das sah Mama Rübsam dann doch ein, gab jedem einen liebevollen Klaps auf den Po und winkte ihnen lange nach.
„Sie werden groß“, sagte sie zu Papa Rübsam, der gerade hinter dem Haus hervorkam, wo er im Garten gearbeitet hatte. Mama Rübsam sah dabei traurig aus, aber ihr Mann lachte nur und schaute, mit stolzem Blick, den drei Jungen hinterher.
„Mensch, ist das toll. Ganz alleine durch die weite Welt zu ziehen!“ Schlitzohr, der sich für besonders tapfer hielt, weil er ja schon mal einem Fuchs entkommen war uns seitdem den Riss in seinem Ohr hatte, pfiff fröhlich vor sich hin.
„Naja, Schlitzohr. Die weite Welt ist vielleicht übertrieben. Wir gehen ja nur zur anderen Talseite. Und für den Anfang finde ich auch, dass das reicht.“ Rübchen zögerte immer etwas bei den gemeinsamen Unternehmungen. Und so ganz geheuer war es ihm ohne die Eltern nicht. Das würde er natürlich vor seinen Freunden nie zugeben und deshalb fing er auch zu pfeifen an.
„Auch wenn es nur die andere Seite des Tals ist, so können doch überall Gefahren lauern und wir müssen unseren Mut beweisen!“ Tüpfel hatte immer etwas den Hang zur Dramatik, erntete jetzt aber nur lebhaftes Gelächter und ein „du spinnst“ von den Gefährten.
„Heh seht mal, was da für einen tolle Liane von dem Baum hängt. Wir können Tarzan spielen.“ Schlitzohr war ganz in seinem Element und hatte schon seinen Rucksack weggelegt.
„Eine Liane? Wir sind doch nicht im Urwald.“ Rübchen schüttelte den Kopf. „Das ist einfach ein Gewächs, das sich verfangen hat und wahrscheinlich hält es dein Gewicht gar nicht aus und du plumpst gleich runter.“
Aber zu spät. Schlitzohr schwang sich schon, wie in einer Schaukel, im Baum umher und wunderbarerweise schienen die Ranken fest verwachsen zu sein.
„Hey, kommt, es macht riesigen Spaß!“
Jetzt konnten Rübchen und Tüpfel auch nicht widerstehen und kletterten schnell in den Baum um mit Schlitzohr um die Wette zu schaukeln. Höher und höher – schneller und schneller. Sie lachten und tobten, bis ihnen ganz schwindlig war.
„Oh je“, mahnte Tüpfel nach einer Weile atemlos. „Wir haben noch einen weiten Weg vor uns und Oma Henriette wird sich Sorgen machen. Kommt, lasst uns schnell weitergehen.“
Ach du liebe Zeit, es war wirklich schon spät geworden. Durstig nahm jeder noch schnell einen großen Schluck Limonade, dann wurden die Rucksäcke wieder übergestülpt und weiter ging es. Der Baum war schon der Wegweiser zu dem Biberdamm gewesen den ihnen Mama Rübsam genannt hatte, und kurz darauf sahen sie schon das krumme Gebilde aus Ästen, Wurzeln und Holzstücken, das sie zum anderen Ufer führen sollte. Schnell rannten sie darauf zu.
„Halt! Was wollt ihr kleinen Langohren hier an meinem Damm!“
Erschrocken drehten sie sich in die Richtung aus der die schroffe Stimme zu ihnen sprach und sahen Herrn Biber hoch aufgerichtet vor sich stehen. Seine Augen funkelten böse.
„W-w-w-wir müssen auf d-d-d-die andere Seite, damit wir zu Oma Henriette kommen“, stotterte Tüpfel und wischte sich einen Nasentropfen weg.
„Aber das ist mein Damm und so einfach könnt ihr da nicht hinüber gehen. Das kostet schon was.“ Herr Biber sah sie mit gierigem Blick an. „Was habt ihr denn in euren Rucksäcken?“
„Nur etwas Limonade und Äpfel. Aber wir haben noch gar nichts gegessen!“ Schlitzohr versuchte seiner Stimme einen festen Klang zu geben, aber es gelang ihm nicht richtig.
„Dann werdet ihr eben noch länger nichts essen“, lachte Herr Biber. „Die Äpfel sind der Wegzoll – dann dürft ihr über die Brücke.“
Sie sahen sich an, aber keiner hatte den Mut noch etwas zu sagen. Also gaben sie ihre Äpfel an den Biber, der sie dann auch wirklich weiterziehen ließ. Hinter sich hörten sie von ihm nur noch die wohlig schmatzenden Laute.
„So ein gemeiner Kerl!“, schimpfte Schlitzohr, als sie in der Mitte des Flusses waren. „Man müsste es ihm heimzahlen. Mit unseren Eltern hat er sich so etwas nie getraut.“
„Ach komm, lass uns einfach weitergehen. Bei Oma Henriette gibt es bestimmt etwas ganz Leckeres.“
„Nein! Ich lass mir das nicht gefallen. Was meint ihr – wenn ich hier dieses schöne glatte Brett rausziehe, wird er bestimmt ganz schön Arbeit haben, das Loch wieder zu flicken.“ Schlitzohr lachte vor sich hin.
„Nein, Schlitzohr, tu’s nicht!“
Zu spät - schon hatte er mit beiden Händen an dem Brett gezogen und hielt es triumphierend hoch. Doch was war das. Ein plötzliches Rumoren und aus dem entstandenen Loch kam erst ein kleiner, dann ein immer größerer Wasserstrahl bis ein riesiger Schwall durchbrach. Tüpfel und Rübchen rannten so schnell sie konnten zur anderen Seite. Aber was war mit Schlitzohr? Er konnte nicht mehr rüber und starrte erst, wie versteinert, auf die Massen, nahm dann das Brett unter seine Füße und surfte wie ein Wellenreiter auf dem Wasserstrahl den Fluss hinunter.
„Neiiiiinnnnn!“ schrien seine Freunde voller Angst. Das konnte doch nicht gut gehen. Was sollten sie nur machen. So schnell sie ihre Beine tragen konnten, rannten sie am Ufer entlang. Ab und zu sahen sie die Gestalt ihres Freundes auftauchen und hinunter hüpfen, über Felsen hinweg und dann wieder in die Wellen hinab.
Nach einer Weile kamen sie zu einer Lichtung, an der sich der Fluss verbreitert hatte und ruhig, fasst wie ein See, dahinplätscherte. Und dort lag am Rand pitschnass und erschöpft Schlitzohr und grinste sie an.
„Na Kumpels“, rief er, aber seine Stimme klang zittrig, „das war vielleicht ein Ritt. Hat super Spaß gemacht.“ Doch dann ließ er sich nur noch zurückfallen und war froh, dass Tüpfel und Rübchen ihn gefunden hatten.
Sie mussten einen riesigen Umweg zu Oma Henriette machen, die schon besorgt auf sie wartete. Wenigstens war Schlitzohr bis zur Ankunft wieder getrocknet und sie brauchten nichts von dem Wasserabenteuer berichten.
Als Entschuldigung erzählten sie nur von ihrer Schaukelaktion ihm Baum und dass sie die Zeit darüber vergessen hatten. Dass Herr Biber ein sehr böser Mann sei, ihnen die Äpfel weggegessen hatte und sie beim Rückweg lieber nicht mehr über seinen Damm gehen wollten, sagten sie natürlich auch.
Denn ihm wollten sie wirklich nicht mehr begegnen.
Oma Henriette merkte zwar genau, dass das nicht alles war, doch sie sah die Erschöpfung der drei kleinen Jungen und ärgerte sich insgeheim über die Unfreundlichkeit des Bibers. Aber bei ihr durften sie jetzt alles genießen, was sie für sie zubereitet hatte. Und das waren wirklich köstliche Sachen. Nudeln mit Soße, geröstete Knödel und dann Kuchen und Waffeln mit Schlagsahne. Hungrig setzten sie sich an den Tisch und ließen kein Krümelchen übrig um danach in einen tiefen und erholsamen Schlaf zu fallen.