Ein weihnachtswunder

Er hasste es! Warum hatte er sich zu diesem dämlichen Job breitschlagen lassen? David konnte nur über sich selbst den Kopf schütteln. "Du bist so ein Vollidiot!", schalt er sich und blickte wieder auf sein Bild, das sich in der Schaufensterscheibe des Einkaufszentrums spiegelte. 

Da stand er, eingehüllt in roten Plüschstoff, das Gesicht verdeckt durch einen riesigen weißen Bart - was ihm zumindest etwas Schutz davor bot, erkannt zu werden. Die Füße in den schweren, schwarzen Plastikstiefeln schmerzten und schwitzten. Er wollte sich gar nicht ausmalen, was für ein Duft herausquellen würde, wenn er diese Dinger in drei Stunden endlich abstreifen konnte. Und dann musste er sich ständig blöd anquatschen lassen und den Kindern trotzdem ein lachendes "Ho-Ho-Ho-Gesicht" bieten. David Kerner, Student der Philosophie und Weihnachtshasser steht hier als der Mann, der die Kinder zu dieser Jahreszeit glücklich machen sollte. Was für eine Lachnummer. Als Student musste man schon einiges ertragen. Die Erfahrung hatte er bereits im Sommer gemacht, als er zum ersten Mal für diese Marketingfirma arbeitete. Es schien ein guter Job, Werbung für ein Produkt zu machen. Dass dies bedeutete, sich in dämliche Kostüme gehüllt den ganzen Tag die Beine in den Bauch zu stehen und lustig zu sein, hatten sie im wohlweislich verschwiegen. Verdrossen erinnerte er sich an das Froschkostüm, mit dem er Bayerns Badeseen heimsuchte und den supercoolen Cooling-Spray anpries: "Ein Frosch kommt nie ins Schwitzen - denn "Green-Cool" nimmt ihm schnell die Hitzen!" Er dankte dem Wettergott, dass er den Sommer auf drei Wochen reduziert hatte, um dann regnerischer Herbststimmung Platz zu machen. Noch nie war er so glücklich gewesen, eine Weile keine Sonne zu sehen. 

Und nun hatten sie ihn wieder geködert. Er hätte eine so vertrauensvolle Ausstrahlung. Seine braunen Augen werdenden potentiellen Konsumenten ein Gefühl der Sicherheit vermitteln und sie zum Kauf ermutigen. Natürlich hatte er sich breitschlagen lassen. Außerdem konnte er die Bezahlung gut gebrauchen. Aber warum unbedingt Weihnachtsmann für eine Kaufhauskette?

Irgendwas zupfte an ihm und riss ihn aus der düsteren Stimmung. David sah an seiner Seite ein kleines Mädchen, das schon länger versucht hatte seine Aufmerksamkeit zu erlangen. Sie blickte mit großen, blauen Augen zu ihm auf und ihre kleinen Hände hielten sich krampfhaft am pelzigen Saum seines Mantels fest. 

"Sag mal, bist du echt?" Ihr Blick durchbohrte ihn auf unangenehme Weise. 

"Ho-ho-ho, natürlich bin ich echt, was denkst du denn?" David kam sich mehr als blöd vor bei dieser Antwort. Dieses Mädchen hatte viel zu intelligente Augen um auf seine Maskerade hereinzufallen. 

"Ich finde, dass du nicht sehr echt aussiehst", sagte sich dann auch. "Du bist überhaupt nicht dick und du hast unten drunter Jeans an, das hab ich vorhin gesehen." Sie grinste ihn verschwörerisch an. "Aber keine Angst, ich sag's nicht weiter."

"Na, dann können wir ja mit dem Spiel aufhören und zur Belohnung, dass du schweigst, lad ich dich auf eine heiße Schokolade ein. Mit wem bist du eigentlich hier? In deinem Alter läuft man doch nicht alleine in der Stadt herum!" David sah sie durchdringend an. "Und sag besser die Wahrheit. Auch wenn ich nicht der Weihnachtsmann bin, habe ich doch einen guten Draht nach oben und wenn du lügst, dann erfahr ich es sofort."

Jetzt blickte sie ihn doch leicht verunsichert an. "Echt?" Schon wollte sich der Finger verdächtig in Richtung Nase bewegen, als sie merkte, dass dies wohl unschicklich wäre und die Hand schnell hinter dem Rücken verschwinden ließ. "Mama ist nur schnell aufs Klo und ich warte hier auf sie. Ich hab ihr gesagt, dass mir beim Weihnachtsmann nix passieren kann - weißt du, sie glaubt nämlich, dass du wirklich der Weihnachtsmann bist. Sag ihr also lieber nicht, dass es nicht wahr ist. Sie wäre sonst echt voll enttäuscht!"

Jetzt musste David wirklich lachen. Er betrachtete das Mädchen genauer. Sie mochte vielleicht sieben Jahre alt sein. Braune Locken lugten unter der grünen Strickmütze hervor. Der dicke Anorak war schon etwas abgetragen, als sei er bereits durch mehrere Kindergenerationen gewandert, genauso wie die Winterstiefel. Aber alles sah sauber und adrett aus. 

"Und ist dein Papa auch hier?" David wurde langsam neugierig, aus was für Verhältnissen dieses Mädchen wohl stammte. Sie erinnerte ihn an jemanden, aber er konnte sie nicht zuordnen. 

"Den gibt's gar nicht. Es gibt bloß Mama und Omi und Opa. Und Mama sagt, dass das auch gut so ist. Männer sind nämlich blöd, außer Opa vielleicht. Und Herr Meier, unser Nachbar. Der hat immer Gummibärchen in so ganz kleinen Tütchen und gibt mir manchmal welche - da kommt Mama!"

Davids Blick wanderte in die Richtung, in die das Mädchen jetzt winkte. Für einen Moment war er verdattert. Das konnte doch nicht sein. Träumte er? Die junge Frau, die auf ihn zukam und sich lachend zu ihrer Tochter beugte, war ihm mehr als vertraut. Das Haar, die gleichen braunen Locken wie bei dem Mädchen, war mit einer großen Spange zurückgehalten. Die selben blauen Augen leuchteten aus dem Oval ihres Gesichts. Der Ausdruck, mit dem sie die Kleine an sich drückte, war vollkommene Liebe - er erinnerte sich an diesen Blick. Wie konnte er nur den Sommer vor acht Jahren vergessen. 

Er war siebzehn und sie war das hübscheste Mädchen in dem Zeltlager, in dem er mit der Jugendgruppe die Ferienwochen verbrachte. Es war seine erste sexuelle Erfahrung gewesen, damals an dem kleinen See. Sabrina - er war so verliebt. Sie wollten in Kontakt bleiben und sich schreiben, aber als auf seine ersten beiden Briefe keine Antwort kam, hatte er vermutet, eine falsche Adresse bekommen zu haben. die Schule und das bevorstehende Abitur nahmen ihn dann wieder völlig gefangen und neue Freundschaften kamen und gingen. Er sah das Mädchen nochmals an, blickte dann zu Sabrina, die ihm diesmal auch in die Augen sah. Für einen Moment schien sie verwirrt, dann hatte sie es plötzlich sehr eilig. "Melly-Schatz, komm jetzt! Wir sind sowieso schon spät dran."

"Aber Mama, der Weihnachtsmann wollte mich auf eine heiße Schokolade einladen! Er ist wirklich nett. Möchtest du ihn nicht kennenlernen?"

"Ja, Sabrina. Möchtest du mich nicht kennenlernen?" David hatte sich wieder gefangen und legte seine Hand auf ihren Arm. Seine Stimme zitterte leicht. "Darf ich dich auch auf eine heiße Schokolade einladen? Ich denke, wir haben uns sehr viel zu erzählen."

Er nahm das Mädchen an der einen Hand und schob Sabrina, die noch immer sprachlos war, mit der anderen in Richtung des kleinen italienischen Cafés gegenüber. Sie sah ihn ungläubig an und ließ es geschehen. 

An der Eingangstür hielt er an und blickte ihr in die Augen. "Sag mal, glaubst du eigentlich an Weihnachtswunder?"