Die Wolkentänzerin

 

Katharina war traurig. Sie konnte es gar nicht richtig beschreiben, aber es machte sich ein komisches Gefühl in ihrem Bauch breit, als ob sie zu viel gegessen hätte, und das drückte bis nach oben in ihren Hals, so dass sie nicht sprechen konnte. Sobald sie es versuchte, quetschte dieser Druck Wasser in ihre Augen und sie wollte sich nur noch unter ihre Decke verkriechen und leiden. Benjamin war heute nicht in der Schule gewesen und die Lehrerin, Frau Hartmann, hatte der Klasse mitgeteilt, dass die Familie Munter in eine andere Stadt gezogen war. Einfach so und sie, Katharina, hatte nichts davon gewusst.

Benjamin war Katharinas bester Freund, was sie ihm nie gesagt hatte. Wieso eigentlich, fragte sie sich jetzt. Weil er sich dann bloß was drauf eingebildet hätte, gab sie sich auch selbst gleich zur Antwort. Und was Katharina auf keinen Fall wollte, das war ein eingebildeter Freund. Katharinas Oma sah sie auch oft an und meinte lachend, wie hübsch sie doch wäre, woraufhin ihre Mama meinte, dass man das nicht sagen sollte. Das Kind würde sonst recht eitel werden. Dabei  genoss es Katharina, wenn ihre Oma sie lobte. Und wenn sie ihre Haare so schön flocht und ein Kränzchen aus Gänseblumen drauf setzte.

Jetzt lag Katharina im Garten im Gras, nachdem sie geholfen hatte die Johannisbeeren zu pflücken,  und betrachtete den Himmel. Sie liebte es den Wolken zuzusehen. Heute waren es diese flauschigen Wolken, die sich ständig änderten und immer neue Gestalt annahmen. Katharina war sich sicher, dass es dort oben so eine Art Puppenspieler gab, der ihnen mit diesen Wolken etwas vorspielte, wie im Marionettentheater, in dem sie letztes Weihnachten waren. Da war Benjamin auch dabei gewesen. Jetzt drückte der Hals schon wieder so zu. Vielleicht würde sie ersticken, dachte sich Katharina. Aber das war ihr jetzt auch egal. Plötzlich fühlte sie einen Windstoß und als sie wieder in den Himmel blickte, hatte sich dort ein weißer Wolkenkreis gebildet aus dem ein Hand herausragte und ihr zuzuwinken schien. Katharina zwickte ein paar Mal die Augen zu und sah nochmals dorthin. Nein, sie hatte sich nicht getäuscht. Die Hand kam jetzt sogar immer näher und streckte sich einladend nach ihr aus. Sollte sie jetzt Angst haben? Aber nein, sie fühlte sich ganz ruhig und, wie von einem Faden gezogen, stand sie auf und streckte dieser großen Hand ihre kleine entgegen. Ein weiches Gefühl umhüllte sie, es kribbelte ein bisschen, also ob jemand mit eine Feder über sie strich. Dann spürte Katharina wie sie sich vom Boden abhob und hinauf gezogen wurde durch den großen runden Eingang. Ja, hier konnte sie gut erkennen, dass es nicht einfach ein runder Wolkenring war, sondern eine Öffnung zu einem anderen Raum. 

Als sie ihren Kopf zurückdrehte, konnte sie unten noch ganz klein den Garten erkennen und sah die Schüssel dort stehen, die sie mit den Beeren angefüllt hatte und jetzt eigentlich in die Küche bringen sollte.

Aber was war hier in den Wolken los. Vorsichtig machte sie ein paar Schritte und sank mit ihren nackten Füßen ganz leicht in den Boden ein, der sich wie Wattebäusche anfühlte und die Zehen kitzelte. Katharina wurde ganz leicht ums Herz und sie hüpfte und sprang und drehte sich, ließ sich fallen und kugelte umher, wie ein kleiner Hund. Dann sah sie jemanden in einem Sessel aus hellgrauem Wolkenmaterial sitzen, der an der einen Seite einen leicht goldenen Schimmer hatte, dort wo die Sonne ihn anstrahlte. Zu diesem jemand gehörte wohl die Hand, die sie hochgezogen hatte, denn die gleiche Hand winkte sie jetzt zu dem Stuhl und der jemand war eine Frau, die merkwürdigerweise ihrer Oma sehr ähnlich sah.

„Wieso warst du denn so traurig, Katharina?“

„Benjamin ist nicht mehr da“, brach es jetzt aus ihr heraus und nun kullerten auch die Tränen über ihre Wangen, die ihr die Wolkenfrau mit einem Wattebausch abtupfte. „Und ich weiß gar nicht, wo er jetzt ist und ob ich ihn wiedersehen werde. Und es hat mir einfach niemand etwas gesagt.“

Das war das Schlimmste, wie ihr jetzt ganz plötzlich bewusst wurde. Keiner hatte vorher darüber gesprochen und sie hatte keine Möglichkeit gehabt sich zu verabschieden.

„Und wenn du ihn jetzt nochmal sprechen könntest?“

„Das wäre wundervoll. Aber die Frau Hartmann hat gesagt, dass sie alle weg sind. Die ganze Familie, Ich werde ihn also nie mehr wiedersehen.“

„Du darfst die Hoffnung nicht so schnell aufgeben“, sagte die Wolkenfrau und wurde immer dünner. Katharina bemerkte erschrocken, wie ein leichter Wind in den Wolkenstuhl blies und er sich immer mehr auflöste und sich verformte, bis er kein Stuhl mehr war sondern ein Baum. Und der sah genau so aus, wie der Baum in ihrem Garten unter dem sie vorhin noch gelegen hatte.

„Katharina, Katharina wo bist du denn?“ Jemand schüttelte leicht an ihrer Schulter und, als sie die Augen aufschlug, sah sie in das Gesicht der, das konnte doch nicht sein, der Wolkenfrau. Sie blinzelte und ihr Herz schlug ganz aufgeregt. Aber nein, das war ja ihre Oma, die sie anlächelte.

„Du hast Besuch, Katharina.“

„Besuch? Wer besucht mich denn?“ Da sah sie schon Benjamin um die Ecke kommen und hinter ihm waren seine Eltern, die mit ihrer Mutter redeten.

„Ich musste doch unbedingt noch bei dir vorbeikommen“, rief Benjamin schon von weitem und Katharina sprang ihm entgegen.

„Benjamin, ich wollte dir auch noch unbedingt sagen, dass du mein aller-, allerbester Freund bist!“