Der Erste Schnee

 

„Rübchen, komm schnell raus, du alte Schlafmütze!“ Es hämmerte an der Tür zu Familie Rübsams Haus, das in einer Kuhle bei den Wurzeln des großen Baums am Waldrand lag. Schlitzohr und Tüpfel standen, dick eingepackt in ihre Wollpullover, davor und hüpften von einer Hasenpfote auf die andere, um keine kalten Füße zu bekommen.

Was war denn passiert? Über Nacht hatte sich die Welt um sie herum in eine überzuckerte Traumlandschaft verwandelt. Schlitzohr und Tüpfel waren gleich hinausgestürzt, als sie nach dem Aufwachen durch das Fenster gesehen hatten, wurden aber erst wieder von Mama zurückgepfiffen und mit den warmen Pullovern ausgestattet. Außerdem mussten sie noch ihren Morgenkakao trinken, den sie in Windeseile hinunterschluckten. Nur ihr Freund Rübchen, der kleine Langschläfer, hatte wieder mal nichts mitbekommen. Aber jetzt stand er vor seinen Freunden und musste sich erstmal die Augen reiben. Die weiße Pracht blendete ihn und sah so schön aus, dass er vor Entzücken den Mund gar nicht mehr zu bekam.

„Los, Rübchen, zieh dir schnell was Warmes an und komm. Wir wollen auf der Wiese den allergrößten Schneehasen bauen, den es gibt.“

Das ließ sich Rübchen natürlich nicht zweimal sagen und er flitzte zurück in sein Zimmer, packte Pullover, Mütze und Schal und war auch schon wieder an der Tür. Seiner Mutter, die in der Küche stand und den Tumult mitbekommen hatte, winkte er kurz zu und da sie gesehen hatte, dass er ordentlich angezogen war, ließ sie ihn davonspringen.

„Pünktlich um zwölf Uhr gibt es Mittagessen, junger Mann“, rief sie ihm noch hinterher und er hob kurz die Hand um ihr mit einem Winken zu zeigen, dass er verstanden hatte.

Der Waldrand gegenüber, an dem ein kleines Bächlein idyllisch dahinplätscherte, war ihr absoluter Lieblingsplatz. Hier waren sie ungestört, hatten sowohl die freie Wiese zum Toben, als auch die Bäume und Büsche, die immer wieder zu einem Versteckspiel einluden. Im Sommer konnten sie ihre Pfoten zur Abkühlung ins Wasser stecken oder sich gegenseitig nass spritzen. Und genau hier, am Waldeingang, würde bald ihr Superschneehase stehen. 

Rübchen blieb erstaunt stehen. Das sah ja wundervoll aus hier, wie in einem Märchenwald. Das Wasser im Bach floss zwar noch fröhlich dahin aber an den Rändern, an denen noch Gräser hineinhingen, hatten sich glitzernde Eiskristalle gebildet. Die Blätter und Nadeln an den Bäumen waren von einer Zuckerschicht bedeckt und an den Spitzen der Zapfen, die von den Tannenästen hingen, hatten sich kleine Tropfen gebildet, die ebenfalls gefroren waren und wie Edelsteine in der Sonne blinkten.

„Siehst du, Rübchen, was du beinahe wieder verpennt hättest?“ Schlitzohr stupste ihn freundschaftlich an. „Und jetzt an die Arbeit Freunde. Heute Mittag muss er fertig sein.“

Sie tollten im Schnee herum, formten kleine Bälle, die sie auf der Wiese anschubsten und die so zu immer größeren Kugeln wurden. Sie bauten daraus einen Bauch, Pfoten, einen Kopf. Das Grundgerüst war jetzt schon mal gemacht, aber nun wurde es schwierig. Die Ohren, die sie aufsetzten, fielen anfangs immer wieder ab und es dauerten eine Ewigkeit, bis sie dieses Problem gelöst hatten. Aber schließlich stand er da, der wunderschöne Schneehase.

„Wir brauchen noch die Augen und die Nase“, rief Tüpfel fröhlich und versuchte gleich ein paar passende Kiesel aus dem Wasser zu fischen. Doch was war das? Ein Geräusch aus dem Wald schreckte sie hoch.

Äste knackten unter schweren Schritten und sie hörten ein Brummen und Stöhnen, als ob sich jemand sehr anstrengen müsste. Die drei Freunde sahen sich verunsichert an und liefen sicherheitshalber hinter ihren Schneehasen. Wer oder was konnte das nur sein? Es wurde immer lauter und sie sahen, wie die Wipfel der kleineren Bäume schwankten.

„Ein Bär vielleicht? Denkt ihr, dass wir schneller sind?“ Schlitzohr zitterte ein wenig, obwohl es natürlich unter seiner Würde wäre sich Angst anmerken zu lassen. Schließlich hatte er schon Erfahrung mit wilden Tieren gesammelt, was ja sein Riss im linken Ohr bewies.

„Bei uns gibt es doch gar keine Bären, oder?“ Auch Tüpfel war es nicht ganz wohl. „Sollen wir nicht lieber nach Hause gehen?“

„Feigling“, plötzlich war Schlitzohr wieder obenauf. „Wir müssen auf jeden Fall wissen, was da los ist und wer diese Geräusche macht. Wenn es wirklich ein gefährliches Monster ist, dann müssen wir schließlich unsere Familien warnen und sie retten.“

„Tu bloß nicht so. Du bist auch nicht mutiger als wir.“ Rübchen sah seinen Freund ärgerlich an. „Aber du hast recht, wir warten auf jeden Fall ab, was los ist. Und schließlich sind wir ja zu dritt und unseren Schneehasen habe wir auch noch. Schaut mal, mit den Augen und der Nase sieht er doch ziemlich echt aus. Vielleicht lässt sich ja dieses Ding durch den Hasen vertreiben.“

„Das ist eine wunderbare Idee, Rübchen.“ Tüpfel sprang von einer Pfote zur anderen. „Wir verstecken uns hinter dem Schneehasen und wenn das Ding aus dem Wald kommt, dann brummen wir ganz laut und furchteinflößend und schlagen es in die Flucht!“

So bezogen sie hinter dem Schneehasen Stellung und hörten, leicht zitternd, wie die schweren Schritte immer näherkamen und sahen sogar kleine Zweige abbrechen und Zapfen durch die Luft fliegen. Und dann, plötzlich, schob sich durch die Bäume am Waldrand ein riesiges Geweih und großer Hirsch trat auf die Wiese. Majestätisch stand er vor dem Schneehasen und sah diesen verdutzt an. Dann warf er seinen Kopf zurück und röhrte so laut, dass sich die Freunde ihre Ohren zuhalten mussten. Das Röhren ging in ein Lachen über und das schüttelte ihn so sehr, dass ihm die Beine nachgaben und er schließlich auf dem Boden lag und sich den Bauch hielt. Jetzt kamen Rübchen, Tüpfel und Schlitzohr langsam heraus, gingen zu dem riesigen Hirsch und halfen ihm wieder auf die Beine.

„Ist das euer Werk?“ Er sah sie aus seinen braunen Augen an und sie nickten schüchtern.

„Das habt ihr toll gemacht – ich wäre fast darauf reingefallen und dachte, ich stehe einem Riesenhasen gegenüber.“ Er zwinkerte sie an. „Wenn ihr mir jetzt noch sagen könnt, wo es zum Bärenwald geht, wäre ich euch sehr dankbar. Dort bin ich verabredet.“

Erleichtert zeigte Schlitzohr dem großen Tier den Weg und dann liefen sie alle erschöpft und froh, dass kein Monster sie heimgesucht hatte, nach Hause.

Und das mit einem Bärenhunger.